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Musik für das denkende Ohr

Berlin, 16. Juli 2022, 21:30 Uhr: Die Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips vollenden ihr Großprojekt im Pierre Boulez Saal. Sie haben an vier Tagen in acht Konzerten alle 18 Messen von Josquin Desprez aufgeführt.

Peter Phillips und die Tallis Scholars nach der Aufführung aller Messen Josquins im Pierre Boulez Saal

Ein begeistertes Publikum feiert die 14 Musiker mit stehenden Ovationen. Auch wenn ich leider nur die Gelegenheit hatte, die letzten beiden der acht Konzerte zu hören, war offensichtlich, dass die Reihe ein voller Erfolg war. In Gesprächen mit anderen Konzertbesuchern wurde klar, dass die Musik die Herzen vieler Besucher erreichte.

Was waren die Gründe für diesen außerordentlichen Erfolg?

Das Programm

Peter Phillips hat in einer kurzen Rede nach dem Konzert den Mut hervorgehoben, der für die Durchführung einer solchen Veranstaltung notwendig ist. Dieser Mut bezog sich nicht nur auf die Tallis Scholars selbst, sondern ganz besonders auch auf die Verantwortlichen des Pierre Boulez Saales. Renaissancemusik ist in den Konzertsälen der Welt nicht sehr präsent. Die Aufführung von 18 rund halbstündigen lateinischsprachigen kirchenmusikalischen Werken eines weithin unbekannten Komponisten ist ein großes Wagnis.

Die Konzertreihe bot die seltene Gelegenheit, in wenigen Tagen die Vielfalt der Messen Josquins kennenzulernen und sich einen Gesamtüberblick über diese Gattung zu verschaffen. Erst im direkten Vergleich entwickeln die Messen einen besonderen Reiz.

Ole Bækhøj, der Intendant des Pierre Boulez Saales, und sein Team haben mit dieser Konzertreihe allerdings nicht zum ersten Mal bewiesen, dass sie über den Mut und die Vision verfügen, solche Konzerte anzubieten.

Die Tallis Scholars

Die Tallis Scholars gehören ohne Zweifel zu den besten Ensembles für die Aufführung von Renaissance-Musik. Sie feiern im nächsten Jahr ihr 50jähriges Bestehen. Ganz besondere Verdienste haben sich sich um Josquin Desprez erworben: Zwischen 1987 und 2020 haben sie alle Messen Josquins aufgenommen und auf insgesamt neun CDs veröffentlicht. Sie verfügen über die Erfahrung, ein solches Wagnis umzusetzen, auch wenn die Verdichtung auf vier Tage (jeweils nachmittags und abends) eine große Herausforderung für das Ensemble bedeutet haben muss.

Am Samstagnachmittag standen die beiden Marien-Messen De beata virgine und Ave maris stella auf dem Programm, während am Abend die “letzten” beiden Messen aufgeführt wurden, die Missa Mater Patris und die Missa Pange lingua.

Das Ensemble besetzt jede Stimme doppelt, im Alt werden Frauen- und Männerstimmen teilweise gemischt. Die vielen Duette innerhalb der Messen werden häufig solistisch vorgetragen.

Um den Sängerinnen und Sänger zu ermöglichen, im Halbkreis zu musizieren wurde im hölzernen Oval des Pierre Boulez Saales Block E entfernt.

Die Tallis Scholars musizieren mit einer perfekten Ausbalancierung der Stimmen, einem vollen Klang und mit hoher Intonationssicherheit die anspruchsvollen Werke. Die Art des Vortrages und die Akustik des Saales ermöglicht es den Hörern, emotionales und analytisches Hören miteinander zu verbinden.

Mein persönliches Highlight war die Missa Mater patris. Sie beruht auf der gleichnamigen Motette Antoine Brumels. Im Unterschied zu anderen Messen ist dieses Werk auf das wesentliche reduziert, geradezu schlicht. Charakteristisch sind kontrastreiche Wechsel zwischen fragilen solistischen Passagen (vor allem in den Mittelstimmen) und homophonen Blöcken voller Klangpracht. Höhepunkt ist das Agnus III: Josquin verarbeitet fast die gesamte Motette Brumels in den Mittelstimmen und perfektioniert diese durch hinzukomponierte Rahmenstimmen. Die Komposition wirkt unprätentiös, leicht und einfach, trotz aller tatsächlichen Komplexität. Auch wenn die Datierung der Werke Josquins unglaublich schwierig ist, führt das Hörerlebnis bei mir dazu, die Missa Mater patris – ganz subjektiv – als spätes Werk zu klassifizieren.

Die mediale Begleitung

In Gesprächen nach dem Konzert wurde klar, dass Hörer mit unterschiedlichen Hörerwartungen und Vorkenntnissen den Weg in den Pierre Boulez Saal gefunden hatten. Für manche war es der erste Kontakt mit der Musik Josquins, andere waren bereits Experten auf dem Gebiet. Nach den Reaktionen zu urteilen, waren alle begeistert.

Verantwortlich für diesen Erfolg war die Vorbereitung und Vermarktung des Konzertes. Grundlage war eine liebevoll gestaltete und inhaltsreiche Website. Diese bot allen die Möglichkeit, sich umfangreich auf die Konzerte vorzubereiten. Allein die Idee, Shirley Athorp und Willem Bruls mit der Produktion eines achtteiligen Podcasts zu beauftragen, verdient Bewunderung.

Alle Interessierten konnten zudem in einem 47minütigen Video einen Blick hinter die Kulissen werfen. Dokumentiert wurde ein Teil der Proben. Daneben stellt Peter Phillips die Sängerinnen und Sänger in kurzen Interviews vor. Eine sehr schöne Idee, denn so konnte man sich mit den Hauptakteuren des Konzertes vertraut machen.

Auch ohne das graphisch und inhaltlich hervorragende 134seitige Programmheft gab es so die Möglichkeit, sich bereits Monate vor Beginn der Konzerte mit den Charakteristika der einzelnen Messen vertraut zu machen. Jeder konnte sich so ein eigenes Programm zusammenzustellen.

Der Aufführungsort

Der von Frank O. Gehry gestaltete Aufführungsort ist ein Glücksfall für diese Musik. Die hervorragenden akustischen Eigenschaften sind das Ergebnis der Zusammenarbeit mit Yasuhisa Toyota, einem der renommiertesten Akustiker für Konzerthäuser. Neben vielen anderen Konzertsälen ist er auch für die Akustik in der Hamburger Elbphilharmonie verantwortlich.

Zentrum des Saals ist eine elliptische Bühne. Um sie herum sind die Zuhörerplätze angeordnet. Da der ovale Rang an nur wenigen Stellen und kaum sichtbar an den Wänden des Saals befestigt ist, ergibt sich ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Dieses wird durch die Musik verstärkt.

Die Vision bei der Konzeption des Saales war es, “Musik für das denkende Ohr” in den Mittelpunkt zu stellen. Für die Konzerte am Samstag kann man nur feststellen: “Vision completed”.

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Josquin und Berlin

Was haben Josquin und Berlin miteinander zu tun? Berlin war im ausgehenden 15. Jahrhundert keine Metropole, sondern eine Doppelstadt mit dem Namen Berlin-Kölln. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl auf über 10.000.

2022 ist Berlin mit rund 3,7 Mio. Einwohnern Veranstaltungsort des wohl ambitioniertesten Josquin-Konzertprojektes überhaupt: Vom 13. bis 16. Juli 2022 werden im Pierre Boulez Saal an vier Tagen in acht Konzerten alle 18 für authentisch gehaltenen Josquin-Messen aufgeführt. Die Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips holen damit nach, was sie eigentlich für den 500. Todestag im Jahr 2021 geplant hatten.

Unter dem Titel “Willkommen im Kosmos Josquin!” wurde für das Projekt eine eigene Website erstellt. Ein Besuch lohnt sich definitiv. Die graphisch ansprechend gestaltete Seite ist in vier Bereiche unterteilt:

  1. Die Messen
  2. Podcast: Master of the Notes
  3. Museumstour
  4. Essays

Die Messen

Im Abschnitt “Messen” werden rund einminütige Auszüge aus allen achtzehn Messen angeboten. Dazu gibt es jeweils kurze Erklärungen zu den Besonderheiten jedes Werkes und Verlinkungen zu Kunstwerken, die einen Bezug zur jeweiligen Messe aufweisen.

Podcast

Ambitionierter ist ein eigens für die Webseite produzierter Podcast mit dem Titel “Master of the Notes“. Autoren des englischsprachigen Podcasts sind Shirley Apthorp und Willem Bruls. In acht Folgen begeben sich die beiden auf Spurensuche in Europa. Zum aktuellen Zeitpunkt (Mai 2022) sind bereits vier Folgen erschienen: 1. Einführung, 2. Warum Josquin?, 3. Im Spinnennetz und 4. Stadt der Sackgassen.

Museumstour

In einer Museumtour hat man die Gelegenheit, mit Peter Phillips Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst zu entdecken. Die Tour erstreckt sich vom 12. bis 16. Jahrhundert und beginnt mit einer Abbildung des berühmten Genter Altars von Jan van Eyck, unterlegt mit einem Auszug aus dem beeindruckenden Agnus Dei III aus Josquins Missa L’homme armé sexti toni.

Essays

Schließlich findet man unter dem Abschnitt “Essays” noch einige interessante Beiträge zu folgenden Fragestellungen:

  1. Peter Phillips: Perspektiven der Renaissance. Essay über Parallelen und Widersprüche zwischen Musik und bildender Kunst in Form eines hypothetischen Gesprächs zwischen Josquin Desprez und dem Architekten Filippo Brunelleschi.
  2. Harry Haskell: Josquin für die Ewigkeit. Text über die faszinierende Rezeptionsgeschichte des Komponisten.
  3. Ivan Moody: Sounding Out Josquin (nur in englischer Sprache). Interview zwischen Ivan Moody und Peter Phillips über die Genese der Aufnahme aller Messen Josquins.
  4. Anthony Parr: Europa im Umbruch. Der Autor ordnet Josquins Leben und Wirken in den geistesgeschichtlichen Kontext des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts ein.
  5. Peter Phillips: A Performer’s Guide to Josquin’s Masses (nur in englischer Sprache). Wiederabdruck eines ausführlichen Artikels über die Messen, der 2018 in der Musical Times erschienen ist.

Mit der Website “Willkommen im Kosmos Josquin!” haben Peter Phillips und der Pierre Boulez Saal eine faszinierende Möglichkeit geschaffen, sich auf das Konzertereignis im Juli 2022 vorzubereiten.

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Josquin500 – Video Killed the Radio Star?

Komponistenjubiläen, wie der 500. Todestag von Josquin Desprez, bringen dem Jubilar neue Aufmerksamkeit. Das war bereits im Jahr 1971 der Fall, als mit der Internationalen Josquin-Konferenz in New York vom 21. bis 25. Juni eine wahre “Josquin-Renaissance” einsetzte. Dazu mag auch der opulente, von Edward Lowinsky herausgegebene Tagungsbericht beigetragen haben.

Josquins 500. Todestag fiel in die Pandemiezeit. Das vielleicht ambitionierteste Projekt war die Aufführung sämtlicher Messen Josquins vom 25. bis 28. August 2021 im Pierre Boulez Saal in Berlin durch die Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips. Am 27. August 2021, dem 500. Todestag Josquins, sollte unter anderem die Missa Hercules dux Ferrariae erklingen. Leider ist die Konzertreihe den Corona-Reisebeschränkungen zum Opfer gefallen. Nach aktueller Planung sollen die Konzerte nun vom 13. bis 16. Juli 2022 nachgeholt werden.

Video

Stattgefunden hat jedoch das Festival “Laus Polyphoniae” vom 20. bis 29. August 2021. Die Veranstalter haben sich für eine Mischung aus Live-Konzerten und Videomitschnitten entschieden, die online frei zugänglich sind. Besonders beachtenswert sind sieben Dokumentationskonzerte unter Mitwirkung von Josquin-Kennern, die die Messen Josquins in den Mittelpunkt stellen:

  1. Misse Josquin I – Missa Ave maris stella – Capella Pratensis – Eric Jas & Stratton Bull
  2. Misse Josquin II – Missa Malheur me bat – Huelgas Ensemble – David Burn & Paul Van Nevel
  3. Misse Josquin III – Missa Hercules dux Ferrarie – Vox Luminis -Patrick Macey & Lionel Meunier
  4. Misse Josquin IV – Missa Pange lingua – Cappella Pratensis – Alanna Ropchock Tierno & Stratton Bull
  5. Misse Josquin V – Missa Faisant regretz – Huelgas Ensemble – Fabrice Fitch & Paul Van Nevel
  6. Misse Josquin VI – Missa Gaudeamus – Cappella Mariana – David Fallows & Vojtěch Semerád
  7. Misse Josquin VII – Missa L’homme armé super voces musicales – Huelgas Ensemble – Jesse Rodin & Paul Van Nevel

Daneben sind auch die anderen Konzerte des Festivals über YouTube verfügbar:

  1. Huelgas Ensemble | Josquin des Prez: a man for all seasons
  2. Cappella Pratensis | Josquin in Ferrara
  3. Pluto-ensemble | Cela sans plus. Sur les ailes de Jossequin
  4. Vox Luminis | Missa L’homme armé sexti toni
  5. Cappella Pratensis | Josquin and the art of eloquence
  6. Huelgas Ensemble | In memoriam Josquin des Prez
  7. Utopia | Lux aeterna
  8. Ratas del viejo Mundo | Voice of a mute

Radio

Außerdem sind einige Radiosendungen erwähnenswert, die verschiedenen Aspekten von Josquins Leben und Werk ungewöhnlich viel Zeit widmen.

BBC Radio 3 hat bereits in der Vergangenheit Josquin Desprez Platz in der Serie “Composer of the Week” eingeräumt. Die Einzelfolgen sind zwar nicht mehr zugänglich, eine Zusammenfassung (mit stark gekürzter Musik) ist allerdings immer noch als auf der Website der BBC verfügbar. In 90 Minuten geben Donald Macleod und Jeremy Summerly einen hervorragenden Einblick in Leben und Werk Josquins

Donald MacLeod hat das Jubiläumsjahr zum Anlass genommen, sich abermals mit Josquin zu befassen. Dieses Mal stehen die Beziehungen zwischen Josquin und der niederländischen Kunst in fünf einstündigen Folgen im Mittelpunkt. Gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Andrew Graham-Dixon besucht er die National Gallery in London und zeichnet ein Bild von Kunst und Musik im Zeitalter Josquins:

  1. Josquin and Netherlandish Art (1/5)Link zu den Bildern in der National Gallery London
  2. Music and Art in Josquin’s Age: Branching Out (2/5)Link zu den Bilder in der National Gallery London
  3. Josquin and Art in Northern Italy (3/5)Link zu den Bilder in der National Gallery London
  4. Josquin and Art in Rome (4/5)Link zu den Bilder in der National Gallery London
  5. Josquin and Art in Ferrara (5/5)Link zu den Bilder in der National Gallery London

Aus rechtlichen Gründen stehen die vollständigen Folgen nur eine begrenzte Zeit (maximal dreißig Tage nach Ausstrahlung) zur Verfügung, auch hier wird jedoch ein Podcast zur Verfügung gestellt, der stark gekürzte Musikeinspieler enthalten wird.

Im deutschsprachigen Raum ist der SWR2-Themenabend zum 500. Todestag von Josquin Desprez hervorzuheben: im ersten Teil interviewt Doris Blaich den Josquin-Biographen David Fallows, den Lautenisten Marc Lewon, Professor für historischen Lauteninstrumente an der Schola Cantorum Basilienses und Leiter des Ensemble Leones sowie den Dirigenten Paul van Nevel, Leiter des Huelgas Ensembles. Der zweite Teil widmet sich den Messen. Interviewgast ist die Musikwissenschaftlerin Christiane Wiesenfeldt.

Ebenfalls sehr hörenswert ist die Sendung “Der Komponist Josquin Desprez: Europas erster Musikstar” von Jenny Berg, die am 2. August 2021 im SRF ausgestrahlt wurde. Im ersten Abschnitt erklärt David Fallows, warum Josquin ihn fasziniert, dann erzählt der Musiker Jean-Christophe Groffe und Leiter des Ensemble Thélème über sein CD-Projekt “Baisiez moy” und im dritten Abschnitt berichtet die Musikerin Tabea Schwarz am Beispiel der Konzertreihe ReRenaissance in Basel, welche Rahmenbedingungen für die Aufführung von Renaissancemusik notwendig sind.

Eine gute Einführung in die Aufführungspraxis von Renaissancemusik und unterschiedliche Interpretationsansätze gibt Michael Stegemann in seinem Beitrag mit dem Titel “500. Todestag von Josquin Desprez – Erster Superstar der Musik”. Der Beitrag wurde im Sender Deutschlandfunk Kultur in der Reihe Interpretationen am 22. August 2021 gesendet. Stegemann fokussiert sich auf auf die Messen Josquins und gliedert seinen fast zweistündigen Überblick durch die fünf Abschnitte des Messordinariums Agnus Dei, Sanctus, Credo, Gloria, Kyrie. Er präsentiert historische und neuere Aufnahmen und vergleicht an den verschiedenen Meßteilen die Interpretationsansätze.

Schließlich ist noch die Sendung “Notendrucker Ottaviano Petrucci – Der Gutenberg der Musik” von Eva Blaskewitz zu nennen, die am 28. April 2021 im Sender Deutschlandfunk Kultur in der Reihe “Alte Musik” gesendet wurde. Blaskewitz widmet sich in ihrem 30minütigem Beitrag dem Notendrucker Ottaviano Petrucci, dem Erfinder des Notendrucks mit beweglichen Metalltypen.