Die Frage nach der Echtheit vieler Werke Josquins ist neben der lückenhaften Biographie eine große Herausforderung der Forschung. Während es in den letzten 50 Jahren große Fortschritte in der Erschließung der Quellen gegeben hat, wird die Frage nach der Authentizität vieler Werke sehr kontrovers diskutiert – ganz zu schweigen von der Datierung.
Die durch die Petrucci-Drucke immens geförderte Bekanntheit Josquins zu Beginn des 16. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass auch Werke, die nicht von Josquin stammten, aus Vermarktungsgründen diesem zugeschrieben wurden.
Der Verleger Georg Forster hat im Vorwort zu seiner 1540 veröffentlichten Motettensammlung davon gesprochen, dass er eine große Persönlichkeit habe sagen hören, dass Josquin, seitdem er tot sei, mehr komponiert habe, als zu Lebzeiten.
„Memini summum quendam virum dicere, Josquinum iam vita defunctum, plures cantilenas aedere, quam dum vita superstes esset.“
Georg Forster, Selectissimarum mutetarum … tomus primus, 1540
Mit Beginn der modernen Josquin-Forschung in der Musikwissenschaft, vor allem durch die akribische Monographie Wolfgang Osthoffs befördert, hat dann ein gegensätzlicher Trend eingesetzt. Das Josquin zugeschriebene Werk ist immer weiter geschrumpft. Die Herausgeber der New Josquin Edition gehen heute davon aus, dass von 335 Josquin zugeschriebenen Werken 143 Werke als authentisch klassifziert werden können, die Urheberschaft von 44 Werken wird als zweifelhaft eingeschätzt und für 135 Werke geht man von einer Fehlzuschreibung aus. 13 Werke konnten nicht klassifiziert werden. Damit wird für über die Hälfte aller Werke Josquins Autorschaft angezweifelt. Bei einem großen Teil konnte tatsächlich durch Quellenfunde bewiesen werden, dass eine Zuschreibung zu anderen Komponisten wahrscheinlicher oder gar sicher ist. Ein nicht unwesentlicher Teil basiert allerdings lediglich auf Vermutungen, entweder auf Basis der Quellenlage, aufgrund der kompositorischen Anlage oder aus anderen Gründen. Die Forschung ist weit von einem einheitlichen Werk-Verständnis entfernt, wozu sicher beigetragen hat, dass selbst die wenigen authentischen Kompositionen Josquins sehr vielfältig und abwechslungsreich sind.
So haben sich die Herausgeber der Neuen Josquin-Ausgabe (New Josquin Edition) zu dem rigiden Schritt entschlossen, keine Werke, die als “Fehlzuschreibung” klassifiziert wurden, in der der Edition zu veröffentlichen.
Wechselnde Herausgeber der Einzelbände und uneinheitliche Kriterien, was als “authentisch”, “zweifelhaft” oder “Fehlzuschreibung” klassifziert wird, haben dazu geführt, dass ein sehr heterogenes Bild entstanden ist. Die drei genannten Kriterien sind nach meiner Ansicht zu schematisch, um ein gutes Bild von der Diskussion zu erhalten. Gerade hier möchte ich mit eigenen Einschätzungen Impulse für die Forschung geben und zur Diskussion anregen. Eine Website bietet zudem die Möglichkeit, aktuelle Erkenntnisse zu verbreiten und Einschätzungen zu revidieren. Grundsätzlich bin ich der Meinung von David Fallows, der zu etwas mehr Großzügigkeit in der Klassifizierung der Werke Josquins aufgerufen hat.
That Smijers’s edition has only two-thirds of the full figure is partly attributable to subsequent discoveries, but more broadly it reflects considerable discrimination on his part — a discrimination continued by later researchers. But the pattern seems to suggest that Josquin is getting smaller and smaller; and it may just be time for a little more generosity.
Fallows, Afterword: Thoughts for the Future, S. 571